Vor langer Zeit, als die kleine Hexe noch eine Kinderhexe gewesen war, hatte sie in einem sehr kleinen Wald gelebt, weit draußen am grauen Meer, wo das Land so flach ist, dass es sich selbst nicht sehen kann, ohne auf einen Stuhl zu steigen. In dem Kinderwald war alles so eng gewesen, dass sich nichts bewegen konnte. Es war der kleinen Hexe nichts anderes übrig geblieben, als zu warten, bis sie größer wurde. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte sie ein Buch gelesen und ein bisschen Gitarre gespielt. Und wenn sie das Buch fertig gelesen und genug Gitarre gespielt hatte, hatte sie sich ins dunkle Zimmer gesetzt und gewartet, dass der Tag zuende ging. Es war eine traurige Zeit gewesen. So etwas kann passieren. Und ich bitte euch, das zu verstehen und nicht darüber zu lachen. Denn es ist nicht witzig.
Die kleine Hexe hatte sich hoch und heilig versprochen: "Wenn ich einmal in einem eigenen Wald wohne, in einem eigenen kleinen Haus, dann werde ich mich niemals wieder langweilen!"
Und sie hatte ihr Versprechen gehalten.
Sie hatte viele Sprachen gelernt: Die Sprache der Rotkelchen, der Waldelche, der Nadelbäume und der Steinpilze. Diese Sprache war besonders schwierig: Denn ihre Wörter bestanden aus Gerüchen und ihre Sätze aus Düften.
Die kleine Hexe war in den Süden gereist, um kleine Tapas zu essen. Und sie war in den Norden gereist, um große Walrosse zu streicheln. Sie hatte angefangen zu kämpfen, weil sie sich so gerne bewegte. Sie hatte Flugstunden genommen, um sich sicher zu fühlen, auf dem Hexenbesen. Sie hatte Kontrabass gespielt in einer schrabsigen Musikkapelle, mit zwei Dunkeltrollen und einer Waldelfe. Sie hatte eigene Lieder und Geschichten gedichtet, die sie sich selber vorsang, mit lauter Stimme. Vor allem aber hatte die kleine Hexe viele Freunde gefunden, die sie besuchen konnte, wenn sie wollte.
Wann immer die kleine Hexe einen Freund traf, den sie mochte, lud sie ihn ein, bei ihr einzuziehen. Auf dem Kleiderschrank wohnten die beiden Tauben, hinter der Tür wohnte der alte Kater, in der Scheune wohnte die alte Ziege Gundula mit den bunten Hörnern, auf der Weide wohnten die zwei Hängebauchschweine mit den lustigen Namen, in den Bodenlöchern wohnten Nachtmäuse, im Heuboden wohnten Schwalbenvögel und im Sommermorgen wohnte der Amselruf. Am Ende der Fichtenlichtung wohnte die große Hexe und auf dem Mond, hinter den Mondbergen, am Fluss des gelben Rauches, wohnte die Freundin der kleinen Hexe mit ihrem Mondmann mit den schönen Augen.
Wenn die Tiere des Waldes in Streit gerieten, kamen sie zum Hexenhaus gelaufen, um sich von der kleinen Hexe Rat zu holen. Geduldig hörte sich die kleine Hexe alle Sorgen an. Dann lachte sie die Tiere aus, weil sie so dumm waren, sich zu streiten: Und die Tiere schämten sich. So viele Pflanzen, Tiere, Dunkeltrolle, Rumpelwichte und Waldmenschen kannte die kleine Hexe, dass sie manchmal schon ihre Namen durcheinander brachte und nicht mehr genau wusste, wen sie wo kennengelernt hatte.
"Kleine Hexe: Du machst zu viel." krächzte der alte Kater, der hinter der Tür wohnte.
"Sei still, alter Kater." sagte die kleine Hexe. "Ich freue mich so sehr über alle Freunde und Dinge: Es macht mir nichts aus, wenn alles ein bisschen durcheinander geht."
"Aber Du bist den ganzen Tag nur unterwegs." maulte der alte Kater
"Ja." lachte die kleine Hexe. "Ist das nicht schön?"
"Aber Du hast so wenig Zeit für mich."
"Bist Du eifersüchtig?"
Leise knirschte der alte Kater mit den Zähnen. "Manchmal... vielleicht... ein bisschen."
"Das musst Du nicht sein." sagte die kleine Hexe zärtlich. "Du bist doch mein alter Kater, den ich über alles liebe."
Die kleine Hexe hatte den alten Kater sehr lieb, aber seine Worte hatten ihr wehgetan. Sie erinnerte sich daran, wie eng es in dem Kinderwald gewesen war. Jetzt bekam sie das Gefühl, dass auch ihr lieber Heimatwald sich immer mehr zusammenengte. Und über diesem Gefühl wurde die kleine Hexe schwer und traurig.
Am Sonntag kam plötzlich ein kleiner Mondvogel angeflattert, mit einem Brief im Schnabel. Der Mondvogel wippte sein rotes Köpfchen hin und her und ließ die Nachricht der kleinen Hexe in den Schoß fallen. Die kleine Hexe las:
Die kleine Hexe überlegte nicht lange. Sie packte ihren Besen und flog auf den Mond.
Den ganzen Abend feierte die kleine Hexe mit ihrer Freundin auf dem Mond: Und sie feierten das Leben. Und sie tranken nicht nur ein Fass, sondern gleich drei Fässer Holunderschnaps. Und am Ende des Abends waren sie ausgesprochen fröhlich und ausgesprochen traurig zugleich. Das kann passieren, wenn man ein weiches Herz hat.
"Findest Du, dass ich zu viele Dinge mache?" lallte die kleine Hexe. "Das sagt jedenfalls mein alter Kater!"
"Findest Du, dass ich zu wenig Dinge mache?" hickste die Freundin. "Das sagt jedenfalls mein Mondmann!"
"Sie haben uns überhaupt nichts zu sagen!" brüllte die kleine Hexe wütend.
"Genau!" kicherte die Freundin. "Sie sind nämlich nicht sagenhaft!"
Die beiden Freundinnen lachten und feierten und tranken viel Holunderschnaps.
Als der Morgen über den Mond zog, verabschiedete sich die kleine Hexe von ihrer Freundin. Sie stieg auf den Besen.
"Aber kleine Hexe," sagte die Freundin, "Du kannst doch…" Sie schwankte ein wenig und hielt sich an einem Mondbaum fest, "jetzt nicht mehr allein nach Hause fliegen!"
"Natürlich kann ich das." sagte die kleine Hexe, und sah zu, wie der Mondbaum sich umdrehte und der Freundin auf den Hut tippte. "Weißt Du, liebe Freundin: Ich kann alles machen, was ich will. Auf Wiedersehen und gute Nacht!"
"Auf Wiedersehen und gute Nacht zurück." hickste die Freundin.
Die kleine Hexe schwang sich auf den Besen und stieß sich vom Boden ab. Dann rutschte sie ab und fiel vom Besen, hinein in die kühle Mondluft. Feuerfunkelnde Sterne rauschten an ihr vorbei, während sie zur Erde fiel, und es kam ihr vor, als dauerte dieses Fallen eine ganze Nachmittagsteezeit an. Es blieb ihr genügend Zeit, in der Luft, während des Fluges, sich in allen Einzelheiten auszumalen, was gerade passiert war und was noch passieren würde, wenn sie auf die Erde plumpste.
"Jaja..." sagte die kleine Hexe zu sich selbst, "Jetzt ist es also doch passiert, wovor ich so große Angst hatte: Ich falle aus der Luft." Sie seufzte. "Wenigstens war es ein schöner Abend auf dem Mond."
Während die kleine Hexe das dachte, fiel sie ein Stückchen weiter zur Erde.
"Wenn es nicht so furchtbar wäre", redete die kleine Hexe weiter zu sich selbst, "könnte es sogar ein großartiges Gefühl sein, dieses Fallen." Sie breitete die Arme aus und lies sich durch eine weiche, wattige Windwolke wirbeln. "Es ist schließlich eine ganz schöne Strecke, vom Mond bis zum Wald."
Während die kleine Hexe das dachte, fiel sie noch ein Stückchen weiter zur Erde, und ihr Reisekittel flatterte im Luftzug.
Weit unter den Wolken tauchte langsam der Erdboden auf. Und da war auch schon der Wald, und ein großer hartnäckiger Baum stand ziemlich genau dort, wo die kleine Hexe vermutlich landen würde. Sie warf einen besorgten Blick nach unten. Und der Baum warf einen besorgten Blick nach oben.
"Es könnte sein…" sagte die kleine Hexe laut zu sich selbst, "dass mir der Baum dort unten ziemlich wehtun wird. Denn er sieht hartnäckig aus. Ich glaube nicht, dass er sich daran macht, mir auszuweichen, bloß weil ich gerade ein bisschen auf ihn zufalle."
Und während die kleine Hexe das dachte, fiel sie ein bisschen weiter auf den Baum zu.
"Es könnte natürlich auch sein…" sagte die kleine Hexe traurig, dass ich stärker bin, als der Baum. Ich bin schließlich auch stärker als der Fuchs, mit dem ich immer kämpfe. Wenn das so ist, dann werde ich dem Baum wohl ziemlich wehtun. Denn es sieht immer noch nicht so aus, als würde er ein kleines Stückchen zur Seite rücken, damit ich vorbeifallen kann."
Und während die kleine Hexe das dachte, hatte sie den Baum schon fast erreicht.
"Vielleicht ist es ja aber auch so…" sagte sie sich zum Schluss, "dass der Baum beschlossen hat, mich aufzufangen: Und das ist wirklich nett von ihm, denn es war wirklich ein langer Flug…"
Mit einem lauten Krachen fiel die kleine Hexe in den Baum. Es war ein hässliches Knacken zu hören und die kleine Hexe brach sich den Fuß.
"Immerhin…" flüsterte sie, als sie an den Baumästen zur Erde rutschte. "hätte es schlimmer können kommen."
Dann fiel sie in Ohnmacht.
Eine Woche später lag die kleine Hexe warm und mullig eingepackt vor dem Kaminfeuer. Der gebrochene Fuß steckte in einem dicken, weißen Gipsverband, aber die kleine Hexe war guter Dinge und summte fröhlich vor sich hin.
"Jetzt hast Du Deinen Willen gekriegt!" sagte sie zu dem alten Kater und lachte. "Jetzt kann ich erstmal gar keine Dinge mehr machen, und werde den ganzen Winter bei Dir bleiben!"
"So habe ich das nicht gemeint!" brummte der alte Kater verlegen und zog den Kopf zwischen die Ohren.
"Das weiß ich doch!" lachte die kleine Hexe zärtlich. "Ich hab Dich lieb, Du alter Kater!"
Es rumpelte und klopfte an der Tür. "Wer kann denn das sein?" fragte die kleine Hexe neugierig und setzte sich auf.
"Ich habe ein paar Leute eingeladen." brummte der alte Kater. "Damit Du nicht den ganzen Winter alleine sein musst."
Er öffnete die Tür: Und herein kamen die beiden Tauben, die auf dem Kleiderschrank wohnten, und die alte Ziege Gundula mit den bunten Hörnern, und die beiden Hängebauchschweine mit den lustigen Namen, und die Familien der Nachtmäuse und Schwalbenvögel. Und zum Schluss trat die große Hexe in die Stube, mit ihrem Hasen an der Hand, und auch die Freundin der kleinen Hexe, mit ihrem Mondmann mit den schönen Augen.
Die kleine Hexe lachte.
Und dann feierten sie alle zusammen ein großes Holunderschnapsfest.
Ende der Hexengeschichten.
Weiterführende Links
- zurück zur Übersicht Geschichten von der kleinen Hexe
- weiter zu Scheerhafen Kiel-Wik 2007 (Fotoserie)
- weiter zu Sechs Variationen über ein Thema von Franz Kafka (Prosatext)
- zurück zu Mikas Dachboden